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Kammergericht Berlin: Selektive Ausschlagung von Eltern für ihre Kinder erfordert Genehmigung des Familiengerichts

Das Kammergericht in Berlin hat mit Beschluss vom 13.03.12 (1 W 747/11) festgestellt, dass die Ausschlagung von Eltern für nur manche ihrer Kinder der familiengerichtlichen Genehmigung bedarf.

Hintergrund:

Nach § 1643 Abs. 1 S. 1 BGB sind die Ausschlagung einer Erbschaft oder eines Vermächtnisses und der Verzicht auf einen Pflichtteil von sorgeberechtigten Eltern für ihr Kind nur dann wirksam, wenn die Ausschlagungs- oder Verzichtserklärung der Eltern vom Familiengericht genehmigt wurde.
Sinn dieser Regelung, die das Sorgerecht der Eltern einschränkt, ist es, Kinder vor missbräuchlichen oder sonst vermögensschädigenden Verfügungen ihrer Eltern zu schützen.
Etwas anderes gilt nach § 1643 Abs. 2 S. 2 BGB jedoch dann, wenn das Kind nur deshalb zum Erben berufen ist, weil ein Elternteil zuvor selbst ausgeschlagen hatte.
Grund dieser Ausnahme ist die Annahme des Gesetzgebers, dass dann, wenn Eltern nach sorgfältiger Prüfung im eigenen Interesse die Erbschaft ausschlagen, der Anfall an das Kind regelmäßig auch für dieses nachteilig wäre und somit eine Benachteiligung der Kindesinteressen durch die Ausschlagung der Erbschaft nicht zu befürchten steht.
Doch wie verhält es sich, wenn die Eltern nicht für alle Kinder ausschlagen (selektive Ausschlagung), sondern diese insoweit ungleich behandeln?

Die Entscheidung des Kammergerichts – 1 W 747/14:

„§ 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB findet keine Anwendung, wenn die Eltern nach eigener Erbausschlagung die Erbschaft nachfolgend für drei ihrer vier Kinder ausschlagen und für eines annehmen. In einem solchen Fall der selektiven Ausschlagung ist eine familiengerichtliche Genehmigung (§ 1822 Nr. 2 BGB) erforderlich.“

Sachverhalt und Gründe:

In dem entschiedenen Fall (stark verkürzt und vereinfacht) hatten Eltern für drei ihrer vier Kinder die Erbschaft nach der Großmutter ausgeschlagen, nachdem der Vater zuvor ebenfalls ausgeschlagen hatte, weil er glaubte, der Nachlass sei überschuldet. Später stelle sich heraus, dass der Nachlass werthaltig war.

Das Kammergericht hält die Ausschlagung der Eltern für ihre drei Kinder für unwirksam, weil sie nicht familiengerichtlich genehmigt waren.
Zur Genehmigungsbedürftigkeit führt es überzeugend aus:

„Zwar betrifft § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB nach seinem Wortlaut auch den Fall, dass die Eltern die Erbschaft für drei ihrer Kinder ausschlagen und für ein Kind annehmen; mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift ist dies aber nicht in Einklang zu bringen. Hinter § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB steht die Vermutung, dass nach der Lebenserfahrung anzunehmen ist, dass für den Fall, dass die Eltern eine Erbschaft ausschlagen, der Anfall dann auch für das Kind nachteilig ist oder sonst ein guter Grund für die Ausschlagung vorliegt.
Diese Vermutung ist widerlegt, wenn das Verhalten der Eltern zeigt, dass sie die Erbschaft für sich selbst nicht ausgeschlagen haben, weil ihre Annahme nachteilig wäre, sondern weil sie den Nachlass in eine bestimmte Bahn lenken wollten. In einem solchen Fall liegt das Interesse, das die Eltern bei der Ausschlagung für sich selbst verfolgen, nicht auf der gleichen Linie wie das Interesse der Kinder, für die sie die Erbschaft gleichfalls ausschlagen; die Eltern wollen die Erbschaft nicht – aus welchen Gründen auch immer – von den als Ersatzerben berufenen Kindern schlechthin fernhalten, sondern in eine bestimmte Richtung lenken. Eine solche gezielte Maßnahme, die einen Teil der Kinder benachteiligt, aber andere oder ein anderes begünstigt, soll nicht der Kontrolle des Familiengerichts entzogen sein.“

 

Anmerkung von Rechtsanwalt Ingo Lahn, Hilden:

Der Entscheidung kann wegen des Sinns und Zwecks der Vorschrift, nämlich dem Schutz der Kindesinteressen und des Kindesvermögens vor Nachteilen zu dienen, nur uneingeschränkt zugestimmt werden.

Der Wortlaut des Gesetzes erlaubt zwar eine taktische, lenkende und selektive Ausschlagung. Dem Gesetzgeber stand aber bei Schaffung der Ausnahme von der grundsätzlichen Genehmigungspflicht nur der Fall vor Augen, dass dann, wenn Eltern die Erbschaft nach sorgfältiger Prüfung selbst im eigenen Interesse ausschlagen, der ausschlagungsbedingte Anfall der Erbschaft beim Kind regelmäßig auch nachteilig wäre und somit die genehmigungsfreie Ausschlagung für das Kind eine Benachteiligung der Kindesinteressen nicht zu befürchten sei.

So heißt es in der Bundestags-Drucksache 8/2788, S. 57:

Schlagen beide Elternteile für das Kind aus, so kann davon ausgegangen werden, daß eine Benachteiligung des Kindes auch dann nicht zu besorgen ist, wenn die Erbschaft dem Kind lediglich durch die Ausschlagung eines der Elternteile anfällt.

Der Gesetzgeber befreite also von der Genehmigungspflicht, weil er davon ausging, dass Kindesinteressen nicht beeinträchtigt würden. Durch eine selektive Ausschlagung werden bei positivem Nachlass aber die Interessen desjenigen Kindes benachteiligt, das durch die Ausschlagung nicht in den Genuss der Erbschaft kommt.


Nachtrag vom 12.04.14:
Das OLG Hamm (Beschl. v. 13.12.13, 15 W 374/13) ist derselben Auffassung gefolgt. Dabei hielt das OLG jedoch die Frage, ob Hinweise auf eine gezielte Bevorzugung oder Benachteiligung bestünden, für weniger entscheidend als vielmehr den Umstand, dass bereits objektiv die Auswahl unter mehreren Kindern die gesetzliche Vermutung eines Interessengleichklangs zwischen den Eltern und ihren Kindern in Frage stellt.

Nachtrag vom 05.11.18:
Der 11. Familiensenat beim OLG Hamm (Beschl. v. 28.06.18, 11 WF 112/18, für die „lenkende Ausschlagung“) lehnt – wie zuvor schon das OLG Köln (Beschl. v. 26.04.12, II-12 UF 10/12) – eine „teleologische Reduktion“ des § 1643 Abs. 2 BGB und damit eine Genehmigungsbedürftigkeit ab.

Die Rechtslage bleibt unklar; es bedarf eines klärenden Wortes des BGH.

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