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Der Bundesgerichtshof hat mit Leitsatz-Entscheidung vom 29.09.21 (IV ZR 328/20) gleich zwei wichtige Grundsatzfragen zum Wertermittlungsanspruch des Pflichtteilsberechtigten gem. § 2314 Abs. 1 S. 2 BGB geklärt:
Dabei ging es primär um die Frage, ob der Pflichtteilsberechtigte auch dann noch ein Wertermittlungsgutachten verlangen kann, wenn der Erbe den fraglichen Nachlassgegenstand bereits veräußert hat und der Veräußerungserlös feststeht (I.).
Nur eher beiläufig hat der BGH dann erstmals höchstrichterlich entschieden, ob der Pflichtteilsberechtigte einen Anspruch auf Wertermittlung durch einen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen hat (II.).

(I.)
Zunächst urteilte der BGH mit amtlichem Leitsatz:

Dem Anspruch des Pflichtteilsberechtigten auf Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB steht nicht der Umstand entgegen, dass der Nachlassgegenstand vom Erben nach dem Erbfall veräußert wurde.

Nach § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB könne der Pflichtteilsberechtigte verlangen, dass der Wert der Nachlassgegenstände ermittelt wird. Dieser Anspruch diene nicht dazu, für den Pflichtteilsberechtigten und den Erben verbindlich den Wert des Nachlassgegenstandes im Zeitpunkt des Erbfalles festzulegen, sondern solle dem Pflichtteilsberechtigten „lediglich“ die Beurteilung des Risikos eines Rechtsstreits über den Pflichtteil erleichtern. „Jedenfalls dann“, wenn die vom Erben vorgelegten Unterlagen und Auskünfte nicht ausreichten, sich ein Bild über den Wert des Nachlassgegenstands zu machen, habe der Pflichtteilsberechtigte ein schutzwürdiges Interesse an einer derartigen Wertermittlung.
So lag es im entschiedenen Fall, da die eingeholten Sachverständigengutachten in ihren Werten sehr stark (zwischen 58.000 und 245.000 €) variierten, während die Veräußerung zu einem Preis von 65.000  € erfolgt war.
Dem stehe auch die Veräußerung nicht entgegen, da dem Pflichtteilsberechtigten anderenfalls der Nachweis (auf Kosten des Nachlasses) verwehrt bzw. zumindest erschwert würde, dass der Veräußerungserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert entspreche.
Dem stehe auch die stRspr des IV. Senats zur Wertbemessung gemäß § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht entgegen. Abzustellen sei auf den so genannten gemeinen Wert, der dem Verkaufswert im Zeitpunkt des Erbfalles entspricht. Da derartige Schätzungen mit Unsicherheiten verbunden seien, entspräche es stRspr des Senats, dass sich die Bewertung von Nachlassgegenständen, die bald nach dem Erbfall veräußert worden seien, von außergewöhnlichen Verhältnissen abgesehen, grundsätzlich an dem tatsächlich erzielten Verkaufspreis orientieren müsse. Diese Rechtsprechung beziehe sich indessen nicht auf die erste Stufe der Pflichtteilsklage hinsichtlich Auskunft und Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 BGB, sondern auf die konkrete Berechnung des Pflichtteilsanspruchs auf der dritten Stufe im Rahmen von § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB.

(II.)
Sodann hob der BGH das landgerichtliche Urteil insoweit auf, als der Klägerin dort Wertermittlung durch Vorlage des Gutachtens eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen zugesprochen worden war, und führte unter Ziff. II. 4. des Urteils im Wesentlichen aus:

Dem Pflichtteilsberechtigten steht kein Anspruch auf Wertermittlung durch Vorlage eines Wertgutachtens eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen zu.

Die Qualifikation des Sachverständigen sei in § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB nicht geregelt. Maßgebend sei (daher) alleine, dass der Wert des Nachlassgegenstandes durch einen unparteiischen Sachverständigen ermittelt wird, unabhängig davon, ob er öffentlich bestellt und vereidigt ist oder nicht. – Ende der Begründung –

Kritische Anmerkung von Fachanwalt für Erbrecht Ingo Lahn, Hilden:

Die jetzige Entscheidung des BGH ist aus der Sicht des im Pflichtteilsrecht tätigen Praktikers bedauerlich. Denn die Praxis zeigt sehr häufig, dass Erben den Pflichtteilsberechtigten mit „Sachverständigen“ mit fraglicher Qualifikation oder zumindest fragwürdigen Gefälligkeitsgutachten abspeisen, um niedrige Immobilienwerte zu generieren und damit Pflichtteilsansprüche zu senken.
Leider ist die Zwei-Satz-Begründung des BGH zu dieser äußerst praxisrelevanten Frage nicht nur denkbar knapp, sondern auch nicht zwingend, denn in § 2314 BGB ist noch nicht einmal das Wort „Sachverständiger“ enthalten, vermutlich weil es sich dabei – damals wie heute – nicht um eine geschützte Berufsbezeichnung handelt…

Die Auffassung des BGH entspricht aber der h.M. in Rechtsprechung (OLG Köln, FamRZ 2012, 483; OLG Düsseldorf, NJW-RR 1997, 454) und Literatur (u.a. MüKoBGB/Lange, § 2314 Rn. 21).
Danach könne der Pflichtteilsberechtigte nur verlangen, dass die Werte durch unabhängige und unparteiische Sachverständige ermittelt würden, solange jedenfalls – so korrigierend Horn (in ZEV 2018, 627 (629) mwN) – der Sachverständige „ausreichend qualifiziert“ und nicht „selbsternannt“ sei.
Zwar soll der Wertermittlungsanspruch den Pflichtteilsberechtigten „nur“ in die Lage versetzen, das Risiko der Geltendmachung seines Anspruchs einschätzen zu können, gleichwohl meine ich, dass ihm zur Minimierung seines Risikos – und zur Vermeidung eines überflüssigen Streits über die Qualifikation des Sachverständigen (für die der Erbe beweispflichtig wäre, vgl. MüKoBGH/Lange, § 2314 Rn. 60; Burandt/Rojahn/Horn, BGB § 2314 Rn. 75) – ein Anspruch auf eine „geprüfte“ Qualität der Wertermittlung hätte zugebilligt werden müssen, damit der Anspruch auf Wertermittlung nicht gänzlich entkleidet wird.

Da die Bezeichnung „Sachverständiger“ gesetzlich nicht geschützt ist, betätigen sich – das zeigt die Erfahrung – so einige nicht hinreichend qualifizierte Gutachter auf dem Markt. Um von solchen Anbietern abzugrenzen, können öffentlich-rechtliche Körperschaften (z.B. die Handwerks-, Industrie- und Handels- oder Architektenkammern) im Interesse der Allgemeinheit und auf Grundlage von § 36 GewO Sachverständige „öffentlich bestellen“, wenn diese in einem Prüfungsverfahren vor einem Fachgremium nachweisen, dass sie persönlich geeignet sind und ihre fachliche Qualifikation sowie besondere praktische Erfahrung die ihrer Fachkollegen deutlich übersteigt.
Auch nach der öffentlichen Bestellung stehen die Sachverständigen unter der ständigen Aufsicht durch die Kammern, unterliegen einer Fortbildungspflicht, dürfen Aufträge nur aus wichtigem Grund ablehnen und müssen gegen Haftungsrisiken eine Versicherung vorhalten.
Zudem wird der öffentlich bestellte Sachverständige darauf vereidigt, dass er seine Aufgabe als Sachverständiger unabhängig, weisungsfrei, persönlich, gewissenhaft und unparteiisch erfüllt und sein Gutachten entsprechend erstattet. Dieser Eid geht schon inhaltlich über den ggf. nach § 410 Abs. 1 ZPO zu leistenden Eid hinaus. Insoweit greift die Argumentation der OLGe Düsseldorf und Köln (a.a.O. und auch in der hier besprochenen Entscheidung zitiert), mit der sie den Anspruch auf Wertermittlung durch öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige ablehnten, nämlich, dass eine Allgemeinvereidigung über Qualifikation und Unabhängigkeit des Sachverständigen nichts aussage, erheblich zu kurz, zumal sie unberücksichtigt lässt, dass derartige Eide ja nur von entsprechend qualitätsgeprüften, „öffentlich bestellten“ Sachverständigen geleistet werden.
Hinzu kommt, dass die Gerichte im Streitfalle über die ermittelten Werte ohnehin auf der Zahlungsstufe ein gerichtliches Sachverständigengutachten einholen müssten und dabei nach § 404 Abs. 3 ZPO gehalten wären, bevorzugt „öffentlich bestellte“ Sachverständige heranzuziehen.

Jedenfalls nach dem SachVRÄndG vom 15.10.16, mit dem der Gesetzgeber das Ziel verfolgte, die Parteienbeteiligung bei der Auswahl der Sachverständigen zu stärken, die Gutachtenqualität zu erhöhen und dadurch gleichzeitig lange Verfahrensdauern zu verkürzen (s. BT-Drs. 18/6985), wäre es wünschenswert gewesen, wenn der BGH die „restriktive“ Haltung der h.M. überdacht und dem Pflichtteilsberechtigten a priori das Gutachten eines qualitätsgeprüften Sachverständigen – und damit u.U. sogar ein „streitschlichtendes“ Gutachten – zugebilligt hätte, statt ihn weiterhin mit einem nicht unerheblichen Prozess- und Kostenrisiko in ein Beweisverfahren zu treiben, das der Gesetzgeber gerade zu vermeiden suchte.

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