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Der Irrtum über die Ausschlagungsmöglichkeit rechtfertigt weiterhin die Anfechtung des belasteten Erben zur Erlangung des Pflichtteils

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 29.06.16 (Az. IV ZR 387/15) wieder für Rechtssicherheit in der sehr praxisrelevanten und seit der Erbrechtsreform erneut umstrittenen Frage gesorgt, ob der Irrtum bei Annahme der Erbschaft, nicht ausschlagen zu dürfen, um seine Mindestbeteiligung am Nachlass nicht zu verlieren, die Anfechtung des belasteten Erben rechtfertigt.

Er bejahte die Frage und bestätigte damit seine Rechtsprechung mit Beschluss vom 05.07.06 (IV ZB 39/05):

„Auch nach der Neuregelung des § 2306 Abs. 1 BGB können sich zur Anfechtung wegen Inhaltsirrtums berechtigende Sachverhaltskonstellationen ergeben, auf die die Grundsätze des Senatsbeschlusses vom 5. Juli 2006 (IV ZB 39/05, BGHZ 168, 210) entsprechende Anwendung finden.“

In dem in diesem Leitsatz zitierten Senatsbeschluss hatte der BGH seinerzeit entschieden:

„Die irrige Vorstellung des unter Beschwerungen als Alleinerbe eingesetzten Pflichtteilsberechtigten, er dürfe die Erbschaft nicht ausschlagen, um seinen Anspruch auf den Pflichtteil nicht zu verlieren, rechtfertigt die Anfechtung einer auf dieser Vorstellung beruhenden Annahme der Erbschaft.“

Der in der Praxis typische Ausgangsfall:

Nach der Testamentseröffnung seines verstorbenen Angehörigen wird der pflichtteilsberechtigte Erbe gewahr, dass seine Erbschaft derart mit Vermächtnissen belastet ist, dass ihm wirtschaftlich nahezu oder weniger als sein Pflichtteil verbleibt.
Frustriert lässt er die Ausschlagungsfrist verstreichen, weil er glaubt, nicht ausschlagen zu dürfen, um nicht auch noch seine geringe Beteiligung am Nachlass zu verlieren.

Grundsatz: Wer ausschlägt, verliert den Pflichtteil

Diese Annahme des Erben ist auch grundsätzlich richtig: Wer eine Erbschaft ausschlägt, verliert nicht nur seine Erbenstellung, sondern als Pflichtteilsberechtigter auch seinen Pflichtteilsanspruch.

Ausnahmen: Belasteter Erbe und Ehegatte

Von diesem Grundsatz gibt es allerdings zwei Ausnahmen, nämlich

  • für den überlebenden Ehegatten im gesetzlichen Güterstand (§ 1371 Abs. 3 BGB) und
  • für den beschränkten oder beschwerten pflichtteilsberechtigten Erben (§ 2306 BGB).

Im Hinblick auf die obigen Entscheidungen interessiert hier nur das Wahlrecht des belasteten Erben nach § 2306 Abs. 1 BGB (für den Ehegatten müsste allerdings Entsprechendes gelten), wenn er

  • beschränkt wurde als Vor- oder Nacherbe oder durch die Anordnung von Testamentsvollstreckung oder Teilungsanordnungen oder
  • beschwert wurde durch Vermächtnis oder Auflage.

Dann – und nur dann – kann der Erbe aus dem pflichtteilsberechtigten Personenkreis die Erbschaft ausschlagen und seinen Pflichtteil verlangen.

Alternativ kann er die belastete Erbschaft annehmen, muss dann aber die Belastungen tragen (z.B. Vermächtnisse erfüllen), ohne dass er eine Kompensation bis zur Höhe seines Pflichtteils erhielte (vgl. § 2305 S. 2 BGB).
Will der belastete Erbe also stattdessen seinen vollen Pflichtteil geltend machen, dann muss er form- und fristgerecht ausschlagen.

Wie die anwaltliche Beratungspraxis zeigt, ist diese Ausnahmevorschrift den meisten juristisch nicht vorgebildeten Erben nicht bekannt und erschließt sich auch bei eigenen Recherchen nicht ohne weiteres.

Erbschaftsannahme und die Anfechtung des belasteten Erben zur Erlangung des Pflichtteils!

Wenn eine derart belastete Erbschaft also angenommen oder die Ausschlagungsfrist versäumt wurde, stellte sich somit die Frage, ob der Irrtum des pflichtteilsberechtigten Erben, im Falle einer Ausschlagung keinerlei Teilhabe am Nachlass, insbesondere keinen Pflichtteilsanspruch mehr zu haben, also letztlich der Irrtum über die Notwendigkeit der Erbausschlagung zur Erhaltung des Pflichtteilsanspruchs, eine Anfechtung der Erbschaftsannahme (oder des Verstreichenlassens der Ausschlagungsfrist, s. § 1956 BGB) rechtfertigt.

Der BGH hat dies in beiden vorgenannten (lesenswerten!) Entscheidungen bejaht. Der vorgenannte Irrtum des Erben ist ein beachtlicher Rechtsfolgenirrtum, der zur Anfechtung des belasteten Erben berechtigt.

Praxishinweis von Rechtsanwalt Ingo Lahn, Fachanwalt für Erbrecht in Hilden:

Nachdem der BGH wieder für Rechtssicherheit gesorgt hat, sollten durch Testament oder Erbvertrag beschränkte oder beschwerte Erben unbedingt von einen Fachanwalt für Erbrecht überprüfen lassen, ob sie ggf. die Anfechtung der Erbschaftsannahme zur Erlangung des Pflichtteils erklären können.

Dabei ist zwingend auf die Verjährung des Pflichtteilsanspruchs zu achten!
Zwar beginnt die Anfechtungsfrist erst mit Erlangung positiver Kenntnis vom Anfechtungsgrund, also dem Irrtum, zu laufen und kann daher bis maximal 30 Jahre nach dem Erbfall erklärt werden.
Jedoch wird die dreijährige (kenntnisabhängige Silvester-) Verjährung des Pflichtteilsanspruchs nicht dadurch gehemmt, dass der Anspruch erst nach der Ausschlagung der Erbschaft geltend gemacht werden kann, § 2332 Abs. 2 BGB.

Der Pflichtteilsanspruch kann also verjähren oder bereits verjährt sein, obwohl eine Anfechtungs- oder Ausschlagungsfrist noch nicht zu laufen begonnen hat.

Siehe auch meine Anmerkungen auf der Homepage des → Netzwerks Deutscher Erbrechtsexperten!

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