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Der Bundesgerichtshof hat nunmehr mit Urteil vom 23.05.12 (IV ZR 250/11 = BGHZ 193, 260) seine seit mehr als vier Jahrzehnten kritisierte, auf der Theorie der Doppelberechtigung beruhende ständige Rechtsprechung bei der Pflichtteilsergänzung aufgegeben.

Leitsatz BGH IV ZR 250/11:

„Der Pflichtteilsergänzungsanspruch – hier eines Abkömmlings – nach § 2325 Abs. 1 BGB setzt nicht voraus, dass die Pflichtteilsberechtigung bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestand (Abkehr von den Senatsurteilen vom 21. Juni 1972 IV ZR 69/71, BGHZ 59, 210 und vom 25. Juni 1997 IV ZR 233/96, ZEV 1997, 373).“

Rechtlicher Hintergrund – Theorie der Doppelberechtigung

Ein Pflichtteilsberechtigter kann nach § 2325 BGB die Ergänzung seines Pflichtteils verlangen, wenn der Erblasser lebzeitig Schenkungen getätigt hat. In diesem Fall wird der Pflichtteil berechnet nach dem Wert eines fiktiven Nachlasses, der sich ergäbe, wären die Schenkungen nicht aus dem Vermögen ausgeschieden.

Nach der bisherigen, jahrzehntelangen Rechtsprechung des BGH war allerdings Voraussetzung für einen Pflichtteilsergänzungsanspruch stets, dass der Anspruchsteller sowohl zur Zeit des Erbfalls als auch zum Zeitpunkt der Schenkung dem Grunde nach pflichtteilsberechtigt war (sog. „Theorie der Doppelberechtigung“).
Wesentlicher Kritikpunkt an dieser Rechtsprechung war, dass die Theorie der Doppelberechtigung keine Stütze im Gesetz findet.

In dem jetzt entschiedenen Fall hat der BGH unter Aufgabe dieser Rechtsprechung einem zur Zeit der Schenkung noch nicht geborenen Abkömmling des Erblassers einen diesbezüglichen Pflichtteilsergänzungsanspruch zugesprochen.

Sachverhalt und wesentliche Entscheidungsgründe:

Die Kläger nahmen ihre Großmutter auf Zahlung von Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüchen nach dem Tode des Großvaters in Anspruch; die Mutter der Kläger war vorverstorben.
Dem geltend gemachten Pflichtteilsergänzungsanspruch lagen Schenkungen des Großvaters zugrunde, die zu einem Zeitpunkt erfolgten, als die Kläger noch nicht geboren waren.

In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung meint der BGH nun (Rn. 13 ff.):

„Für den Pflichtteilsergänzungsanspruch kommt es allein auf die Pflichtteilsberechtigung im Zeitpunkt des Erbfalles an (div. Nachweise). (…)
Dem Wortlaut des § 2325 Abs. 1 BGB lässt sich nicht entnehmen, dass es für die Pflichtteilsberechtigung nicht nur auf den Erbfall, sondern auch auf den Zeitpunkt der Schenkung ankommt. (…)
Gegen die „Theorie der Doppelberechtigung“ spricht ferner der Sinn und Zweck des Pflichtteilsergänzungsanspruchs. Grundgedanke des Pflichtteilsrechts ist die Mindestteilhabe naher Angehöriger am Vermögen des Erblassers. Diese sollen an den von ihm während seines Lebens geschaffenen Vermögenswerten durch einen schuldrechtlichen Anspruch in Höhe der Hälfte ihres gesetzlichen Erbrechts partizipieren. Um eine Verkürzung dieses Teilhabeanspruchs zu verhindern, hat der Gesetzgeber den Pflichtteilsanspruch hinsichtlich des konkret beim Erbfall vorhandenen Nachlasses um den Pflichtteilsergänzungsanspruch wegen erfolgter Schenkungen gegen den Erben bzw. Beschenkten nach §§ 2325, 2329 BGB ergänzt.
Hierfür ist es unerheblich, ob der im Erbfall Pflichtteilsberechtigte schon im Zeitpunkt der Schenkung pflichtteilsberechtigt war oder nicht. (…)

Hat der Erblasser mehrere Kinder und sind einige im Zeitpunkt vor der Schenkung sowie einige danach geboren, so werden letztere hinsichtlich des Pflichtteilsergänzungsanspruchs ungleich behandelt. Das verstößt gegen den Grundsatz des § 1924 Abs. 4 BGB, wonach Kinder zu gleichen Teilen erben. Ein nach Art. 3 Abs. 1 GG sachlich gerechtfertigter Grund für eine derartige Ungleichbehandlung der Kinder besteht nicht. Ihre Pflichtteilsberechtigung beruht nicht auf einem eigenen Dispositionsakt, sondern lediglich auf ihrer Geburt. Geht es um eine Mindestteilhabe am Vermögen des Erblassers, kommt eine Differenzierung zwischen den Abkömmlingen danach, ob sie vor oder nach der Schenkung geboren wurden, nicht in Betracht. (…)“

Anmerkung von Rechtsanwalt Ingo Lahn, Fachanwalt für Erbrecht in Hilden:

Der Entscheidung des BGH ist – jedenfalls für Abkömmlinge des Erblassers – zuzustimmen.
Doch so richtig die Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung für Fälle noch nicht geborener Abkömmlinge ist, so sehr öffnet sie aber – jedenfalls der einleitenden Begründung nach – für Fälle der Wiederverheiratung die Büchse der Pandora und führt bereits jetzt schon zu spürbaren Konsequenzen in der Praxis!
Zwar gibt es inzwischen gewichtige Stimmen, die Ergänzungsansprüche für den „neuen“ Ehegatten ablehnen; eine Klarstellung des BGH fehlt jedoch noch.
Allerdings gibt die Gesetzeslage nichts dafür her, einen neuen Ehegatten von Pflichtteilsergänzungsansprüchen wegen vor der Eheschließung getätigter Schenkungen auszunehmen.
Dies ist sehr unbefriedigend und dürfte wohl dem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, doch ist es nicht Sache der Rechtsprechung, sondern des Gesetzgebers, eine sachgerechte Regelung zu schaffen.

Jedenfalls ist jetzt Streitpotential zwischen den Kindern des Erblassers und dem Stiefelternteil vorprogrammiert!
Umso wichtiger ist es, eindeutige Vorsorgeregelungen zu Lebzeiten zu treffen! In Betracht kommt insoweit insbesondere ein (zumindest auf die vor Eheschließung vorgenommenen Schenkungen) dinglich beschränkter Pflichtteilsverzichtsvertrag zwischen den Eheleuten.

Nachtrag 27.12.2013

In ErbR 2013, 366 (380), meint der an dem hier besprochenen Urteil beteiligte RiBGH Roland Wendt, in dem Urteil des Senats fände sich zu der Problematik „nachgerückter Ehefrauen“ nichts. Diesen Fall habe der BGH nicht entschieden; es fände sich auch kein Hinweis, dass der Senat diesen ausdrücklich offen lassen wollte. Allerdings lässt Wendt ziemlich beredt offen, ob nicht (doch) nachfolgende Ehepartner anders zu behandeln seien.

Es bleibt spannend!

Nachtrag 15.12.2016

Das Oberlandesgericht Hamm (10 U 61/07; Link auf justiz.nrw.de, dort Rn. 226) hat nun mit Urteil vom 27.10.16 der Theorie der Doppelberechtigung auch in Bezug auf spätere Ehegatten eine Absage erteilt.

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