BGH zur ergänzenden Testamentsauslegung bei Hinzuerwerb weiteren Vermögens
Der Bundesgerichtshof hatte sich in seiner Entscheidung vom 12.07.17 (IV ZB 15/16) mit einem in der Praxis häufigen Fall der Auslegung eines privatschriftlichen „Verteilungstestaments“ zu befassen, in dem ein Erblasser, ohne ausdrücklich einen Erben zu benennen, sein zur Zeit der Testamentserrichtung vorhandenes Vermögen „verteilt“ hatte.
Die Besonderheit des entschiedenen Falls lag darin, dass die Erblasserin nach Testamentserrichtung unerwartet zu erheblichem Vermögen gekommen war.
Mit seinem Beschluss hob der BGH überraschend zeitnah die Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 05.08.16 (ZEV 2017, 143 = FamRZ 2017, 485) auf, in der das OLG zunächst die Zuwendung des wesentlichen Nachlassgegenstands (ein Grundstück) als Alleinerbeneinsetzung ausgelegt hatte, dann aber meinte, aufgrund des nachträglichen Vermögenserwerbs eine ergänzende Testamentsauslegung dahingehend durchführen zu können, dass die Erbeinsetzung nur noch als Teilerbeinsetzung anzusehen sei.
Leitsatz BGH, IV ZB 15/16:
„Wenn der Erblasser durch letztwillige Zuwendung einer Sachgesamtheit den Nachlass erschöpfen und gleichzeitig einen Bedachten zum Alleinerben einsetzen wollte, ist im Einzelfall zu prüfen, ob die durch Auslegung ermittelte Erbeinsetzung nach dem Regelungsplan des Erblassers auch einen nachfolgenden, unvorhergesehenen Vermögenserwerb erfassen sollte.“
Der zugrunde liegende Sachverhalt (verkürzt):
Im Oktober 2015 verstarb die verwitwete und kinderlose Erblasserin. Diese hatte im Jahre 2007 ein Testament errichtet mit folgendem Wortlaut (verkürzt):
„Mein letzter Wille
Für den Fall meines Todes verfüge ich:
1) Haus- und Grundbesitz in … incl. der gesamten Einrichtung sollen … [dem Lebensgefährten] bis an sein Lebensende zur eigenen Nutzung zur Verfügung stehen. Er ist verpflichtet den gesamten Besitz zu pflegen, ausreichend zu versichern und erforderliche Reparaturen zu veranlassen.
2) Nach dem Ableben … [des LGef.] geht das gesamte Objekt an … [die Großnichte] über.
3) Eventuell noch vorhandenes Bar- oder Anlagevermögen sollen für meine Beerdigung und die Grabpflege … eingesetzt werden.
4) Meinen Schmuck soll [die Schwägerin] erhalten. (…)“
Im Juni 2015, also wenig Monate vor dem Ableben der Erblasserin, verstarb ein Kriegskamerad des Vaters der Erblasserin, der diese testamentarisch zur Alleinerbin eingesetzt und ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatte.
Der Bruder der Erblasserin meint, gesetzlicher Erbe, die Großnichte alleinige testamentarische Erbin geworden zu sein. Beide beantragten für sich jeweils Allein-Erbscheine.
Der Antrag des Bruders hatte durch alle Instanzen keinen Erfolg; den Antrag der Großnichte hatte das OLG Düsseldorf zurückgewiesen, aber die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof zugelassen.
Rechtlicher Hintergrund – das auslegungsbedürftige Testament:
Viele privatschriftliche Testamente enthalten leider keine ausdrückliche Erbeinsetzung oder festen Erbquoten, sondern „begnügen“ sich unbewusst damit, lediglich einzelne Vermögensgegenstände oder Sachgesamtheiten auf eine oder mehrere Personen zu verteilen (z.B. „meine Immobilie bekommt…, mein Sparkonto geht an…, mein übriges Geld erhält…“).
Dann muss durch Auslegung ermittelt werden, ob der Erblasser mit seinem Testament einen oder mehrere Erben einsetzen oder nur Vermächtnisse anordnen wollte und i.Ü. die gesetzliche Erbfolge eintreten soll.
Ziel der Testamentsauslegung
Bei der Testamentsauslegung geht es um die Klärung der Frage, was der Erblasser mit seinen Worten sagen wollte, welcher Wille also als im Rechtssinne erklärt anzusehen ist.
Dabei ist zunächst der tatsächliche Wille nach dem Wortlaut oder einem individuellen, familienspezifischen, regionalen, schicht- oder berufsspezifischen Sprachgebrauch zu ermitteln.
Lässt sich der wirkliche Wille danach nicht feststellen, muss in einem zweiten Schritt der mutmaßliche Wille des Erblassers erforscht werden. Das ist der wirkliche Wille, den der Erblasser mutmaßlich gehabt hat.
Hiervon streng zu trennen ist der hypothetische Wille, der im Rahmen der ergänzenden Auslegung zu ermitteln ist, wenn es gilt, unbewusst planwidrige Lücken in einer Verfügung von Todes wegen zu schließen, die durch dem Erblasser unbekannte Umstände entstanden sind.
Dabei ist die Lücke nicht durch die möglicherweise sinnvollste oder gerechteste Lösung zu schließen, sondern zu fragen, wie der Erblasser testiert hätte, hätte er den Umstand gekannt oder die spätere Entwicklung bedacht.
Zur Klarstellung: Die ergänzende Auslegung fragt nicht nach einem späteren Erblasserwillen, sondern nach dem Willen, den der Erblasser im Zeitpunkt der Testamentserrichtung gehabt hätte, hätte er den betreffenden Umstand bedacht.
Problem: Nach Testamentserrichtung unerwartet erworbenes Vermögen
Dass eine ausdrückliche Erbeinsetzung nicht rückwirkend durch ergänzende Auslegung beseitigt werden kann, nur weil der Erblasser zur Erbeinsetzung durch seine Vermögenslage zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung motiviert war und das später hinzuerworbene weitere Vermögen nicht kannte, dürfte gesicherte Auffassung sein.
Anders soll dies aber bei der Zuwendung einer Sachgesamtheit sein, die bei Testamentserrichtung den Nachlass praktisch erschöpft und daher als Einsetzung zum Alleinerben anzusehen ist.
In diesem Fall soll es eine Frage der Auslegung sein, ob die Erbeinsetzung sich auf den Gesamtnachlass, also auch das später erworbene Vermögen, erstrecken oder nur auf die zunächst erfassten Werte beschränkt sein soll.
Die jetzige Entscheidung des BGH – IV ZB 15/16:
Das Oberlandesgericht Düsseldorf war der Auffassung, dass im Falle eines nachträglichen Vermögenserwerbs eine ergänzende Testamentsauslegung dazu führen könne, dass eine durch Einzelzuwendung getroffene Einsetzung zum Alleinerben nunmehr als Teilerbeinsetzung anzusehen sei.
Der BGH verneint dies und zeigt (neben weiteren Widersprüchlichen in der Entscheidung) auf, dass umgekehrt ein Schuh daraus werden kann…
Gleichzeitig bekräftigt er seine frühere Rechtsprechung: Steht der im Wege einfacher (erläuternder) Auslegung ermittelte Erblasserwille fest, kann von ihm nicht mehr im Wege ergänzender Auslegung abgewichen werden.
Essenz der Entscheidung:
1. Im Falle testamentarischer Zuwendung nur einzelner Gegenstände kann eine Erbeinsetzung anzunehmen sein, wenn
- der Erblasser sein Vermögen vollständig den einzelnen Vermögensgegenständen nach verteilt hat,
- er dem Bedachten die Gegenstände zugewendet hat, die nach seiner Vorstellung das Hauptvermögen bilden,
- oder nur Vermächtnisnehmer vorhanden wären und nicht anzunehmen ist, dass der Erblasser überhaupt keine Erben berufen und seine Verwandten oder seinen Ehegatten als gesetzliche Erben ausschließen wollte.
Die Zuwendung eines wertmäßigen Hauptnachlassgegenstands, etwa eines Hausgrundstücks, als Erbeinsetzung des Bedachten anzusehen, stellt die Regel dar, wenn der Nachlass dadurch im Wesentlichen erschöpft wird oder der objektive Wert das übrige Vermögen an Wert so erheblich übertrifft, dass der Erblasser ihn als seinen wesentlichen Nachlass angesehen hat.
2. Ausnahmsweise kann eine von diesen Grundsätzen anderslautende Testamentsauslegung geboten sein.
3. Ergibt die einfache (erläuternde) Auslegung, dass der Erblasser durch Zuwendung einer Sachgesamtheit den Nachlass erschöpfen und gleichzeitig einen Bedachten zum Alleinerben einsetzen wollte, dann kann im Einzelfall zu prüfen sein, ob die durch Auslegung ermittelte Erbeinsetzung nach dem Regelungsplan des Erblassers auch einen nachfolgenden, unvorhergesehenen Vermögenserwerb erfassen sollte.
Der nachträgliche Vermögenserwerb vermag aber an einer angenommenen, „ursprünglichen“ Erbeinsetzung selbst nichts mehr zu ändern, da für die (nicht ergänzende) Auslegung nur der bei Testamentserrichtung vorhandene Wille des Erblassers maßgeblich ist.
4. Die ergänzende Testamentsauslegung ist jedoch bei einer nachträglichen Umstandsänderung (nachträgliche Lücke) – wie einem unerwarteten Vermögenserwerb – dann eröffnet, wenn die letztwillige Verfügung des Erblassers bei wertender Gesamtbetrachtung aller Umstände und der vom Erblasser zur Zeit der Testamentserrichtung verfolgten Ziele (Regelungsplan) eine planwidrige Regelungslücke aufweist und ein hypothetischer Wille des Erblassers ermittelt werden kann, anhand dessen die vorhandene Lücke geschlossen werden kann.
Dabei darf ein hypothetischer Erblasserwille nur unterstellt werden, wenn er auf eine bestimmte, durch Auslegung der letztwilligen Verfügung erkennbare Willensrichtung des Erblassers zurückgeführt werden kann.
Lässt sich ein solcher Wille nicht feststellen, dann verbleibt es trotz vorhandener Regelungslücke bei dem bisherigen Auslegungsergebnis.
Empfehlung von Rechtsanwalt Ingo Lahn, Fachanwalt für Erbrecht aus Hilden:
Der besprochene Fall zeigt wieder einmal, wie wichtig es ist, ein Testament sauber und möglichst mit den richtigen Fachbegriffen zu formulieren, damit der „letzte Wille“ auch das letzte Wort bleibt.
Die Testamentsauslegung ist eine hohe Kunst im Erbrecht.
Doch am besten lassen Sie es gar nicht so weit kommen, denn die Testamentsauslegung ist in der Praxis unkalkulierbar.
Versichern Sie sich bei der Erstellung Ihres Testament daher fachlicher Unterstützung durch einen Fachanwalt für Erbrecht oder Notar!
Ausblick zum Fall:
Nachdem der BGH die Sache an das OLG Düsseldorf zurückverwiesen hat, erscheint es nicht abwegig, dass das OLG nach weiteren Ermittlungen sogar zu einer gänzlich anderen Auslegung kommt, nämlich dass der Lebensgefährte als Vorerbe und die Großnichte lediglich als Nacherbin anzusehen ist…