BGH: Auslandsaufenthalt i.S.d. § 1944 Abs. 3 BGB liegt jedenfalls bei einem Tagesausflug nicht vor
Der Bundesgerichtshof hat in zwei Verfahren mit Beschluss vom 16.01.19 (IV ZB 20/18 und IV ZB 21/18) entschieden, dass jedenfalls ein Tagesausflug ins Ausland nicht zu einer Verlängerung der Ausschlagungsfrist von sechs Wochen auf sechs Monate (§ 1944 Abs. 3 BGB) führt.
Bei dieser Entscheidung ging es vordergründig um eine relativ unspektakuläre Rechtsfrage. Spektakulär waren jedoch die Hintergründe und Motive der Protagonisten, die kollusiv durch taktische Ketten-Ausschlagungen versucht hatten, den Erblasserwillen zum Nachteil der Enkel auszuhebeln und die Genehmigung des Famliengerichts für die Ausschlagung eines Minderjährigen zu umgehen, was den BGH zu deutlich missbilligenden Worten verleitete (Rn. 23).
Leitsatz BGH v. 16.01.19, IV ZB 20/18 und 21/18:
„Ein Auslandsaufenthalt im Sinne des § 1944 Abs. 3 BGB liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn sich einer der beiden gesetzlichen Vertreter eines minderjährigen Erben bei dem Beginn der Frist lediglich für einige Stunden zu einem Tagesausflug im Ausland aufhält und planmäßig noch am selben Tag an seinen Wohnort im Inland zurückkehrt.“
Sachverhalt (nur leicht verkürzt):
Um aufzuzeigen, welche Energie die Söhne der Erblasserin aufgewandt haben, um den letzten Willen ihrer Mutter auszuhebeln, und welch Druck höchstwahrscheinlich auf den gerade volljährig gewordenen Enkel ausgeübt worden sein mag, soll an dieser Stelle der dem Fall zugrundeliegende Sachverhalt nur leicht verkürzt dargestellt werden:
Die am 03.12.16 verstorbene Erblasserin hinterließ zwei Söhne, B1 und B2, sowie zwei Enkel, Kinder des B2, nämich B4 und B5 (dieser geboren am 12.10.99).
In ihrem Testament aus dem Jahre 2006 setzte sie ihre Söhne je zur Hälfte als Vorerben ein. Zu Nacherben des B2 bestimmte sie auf seinen Tod dessen Kinder, ihre Enkelkinder B4 und B5. Zu Nacherben von B1 bestimmte sie ebenfalls B4 und B5, falls er bei seinem Ableben unverheiratet und kinderlos sein sollte; andernfalls sollten seine gesetzlichen Erben die Nacherben sein.
Die Nacherben sollten zugleich Ersatzerben sein.
Ferner ordnete sie Testamentsvollstreckung an und bestimmte B3 zum Testamentsvollstrecker, der im Nacherbfall den Nachlass für die Enkel jeweils bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres verwalten sollte.
Das Testament wurde am 28.12.16 durch das Nachlassgericht eröffnet; am 19.01.17 erhielten auch die Nacherben Abschriften des Testaments übersandt. Am 23.01.17 beantragte B3 als Testamentsvollstrecker die Erteilung eines Erbscheins, der B1 und B2 als Vorerben zu je 1/2 ausweist.
Mit notarieller Urkunde vom 07.02.17 schlugen B1 und B2 die Erbschaft nach der Erblasserin unter Berufung auf § 2306 BGB als durch Testament eingesetzte Vorerben aus und wiesen darauf hin, dass sich ihre Ausschlagung nur auf den Berufungsgrund als testamentarisch eingesetzte Vorerben beziehe und sie für den Fall, dass sie jetzt oder später als gesetzliche Erben berufen würden, die Erbschaft annähmen.
Mit notarieller Urkunde vom 23.02.17 schlug B4 die Erbschaft nach der Erblasserin als durch Testament eingesetzter Nacherbe und zugleich auch als Ersatzerbe und somit Vollerbe aus allen in Betracht kommenden Berufungsgründen aus.
Mit Schreiben vom 16.03.17 an B2 sowie seine Ehefrau wies das Nachlassgericht darauf hin, dass nach der Ausschlagung durch die Vorerben die Erbschaft dem B5 angefallen sein dürfte.
Mit Urkunde vom 06.09.17 schlugen B2 und seine Ehefrau als gesetzliche Vertreter des B5 die Erbschaft als durch Testament eingesetzter Nacherbe und zugleich auch als Ersatzerbe und somit Vollerbe aus allen in Betracht kommenden Berufungsgründen ohne jede Bedingung aus.
Nach Eintritt seiner Volljährigkeit (12.10.17) genehmigte B5 am 17.10.17 diese Erbausschlagung.
Am 26.10.17 beantragten B1 und B2 die Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins auf der Grundlage gesetzlicher Erbfolge, da die testamentarischen Erben sämtlich die Ausschlagung erklärt hätten.
Sie sind der Auffassung, B5 habe die Erbschaft fristgerecht ausgeschlagen, denn für ihn habe die Sechsmonatsfrist des § 1944 Abs. 3 BGB gegolten.
Sie hätten sich nämlich am 18.03.17 zusammen mit B5 auf einem Tagesausflug in Dänemark befunden, als die Mitteilung des Nachlassgerichts über die Ausschlagung der Vorerben zu Hause per Post angekommen sei. Nach dem Anruf der Mutter seien sie noch am selben Tag wie geplant nach Deutschland zurückgekehrt.
Das Nachlassgericht erachtete die für die Erteilung des Erbscheins erforderlichen Tatsachen für festgestellt und wies den Antrag des B3 auf Erteilung eines Testamentsvollstreckerzeugnisses zurück.
Das OLG Schleswig dagegen wies auf die Beschwerden des B3 den Erbscheinsantrag zurück und wies das Nachlassgericht an, dem B3 ein Testamentsvollstreckerzeugnis zu erteilen.
Mit den durch das Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerden verfolgt B1 seine zuletzt gestellten Anträge weiter.
Die wesentlichen Entscheidungsgründe:
Der Erbscheinsantrag von B1 und B2 ist nach dem Beschluss des BGH unbegründet, da gesetzliche Erbfolge aufgrund der unwirksamen Ausschlagung von B5 als Nach-/Ersatzerbe nicht eingetreten sei.
Nach § 1944 Abs. 1 BGB kann die Ausschlagung nur binnen sechs Wochen erklärt werden. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in welchem der Erbe von dem Anfall und dem Grund der Berufung Kenntnis erlangt (§ 1944 Abs. 2 S. 1 BGB). Ist der Erbe durch Verfügung von Todes wegen berufen, beginnt die Frist nicht vor Bekanntgabe der Verfügung von Todes wegen durch das Nachlassgericht (§ 1944 Abs. 2 S. 2 BGB).
Die Frist beträgt sechs Monate, wenn der Erblasser seinen letzten Wohnsitz nur im Ausland gehabt hat oder wenn sich der Erbe bei dem Beginn der Frist im Ausland aufhält (§ 1944 Abs. 3 BGB).
Bei einem minderjährigen Erben – wie hier B5 – komme es nicht auf dessen Kenntnis, sondern auf die des gesetzlichen Vertreters an. Die Frist zur Ausschlagung der Erbschaft beginne in diesen Fällen erst mit dem Zeitpunkt, zu dem der letzte der gesetzlichen Vertreter erstmals Kenntnis von dem Anfall und dem Grund der Berufung erlangt hat.
Für für den Begriff des Aufenthalts im Sinne von § 1944 Abs. 3 BGB ist anerkannt, dass ein tatsächliches Verweilen an einem bestimmten Ort mit einer gewissen Verweildauer genügt.
Sinn und Zweck der Vorschrift sei, den Kommunikationsproblemen Rechnung zu tragen, die sich für den Erben ergeben, wenn er sich im Zeitpunkt des Fristbeginns im Ausland aufhält, er also die maßgeblichen Informationen über den Erbfall und dessen tatsächliche sowie rechtliche Auswirkungen nur unter besonderen Schwierigkeiten erlangen kann.
„Jedenfalls“ in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der gesetzliche Vertreter nach einem Ausflug für einige Stunden in das unmittelbar benachbarte Ausland noch am selben Tag – wie geplant – wieder nach Deutschland zurückzukehre, bestehe für die verlängerte Ausschlagungsfrist des §1944 Abs. 3 BGB keine Rechtfertigung, da nicht ersichtlich sei, welche besonderen Kommunikationsschwierigkeiten es insoweit gegeben haben sollte. Zur Kommunikation mit seiner Frau über die Ausschlagung von B5 bestand nach der Rückkehr des B2 hinreichend Zeit und Gelegenheit.
Sodann setzt sich der BGH noch mit der Argumentation der Rechtsbeschwerde auseinander, die verspätete Ausschlagung sei als Anfechtung der Versäumung der Ausschlagungsfrist i.S.d. § 1956 BGB anzusehen.
Zwar könne ein zur Anfechtung berechtigender darin liegen, dass ein Beteiligter trotz fehlenden Annahmewillens die Ausschlagungsfrist verstreichen lässt, weil er über ihr Bestehen, ihren Lauf oder die Rechtsfolgen ihres Ablaufs irre, jedoch sei weitere Voraussetzung, dass der Irrtum für die Abgabe der Willenserklärung kausal ist.
Hieran fehle es. Denn selbst wenn die Eltern des B5 fristgerecht ausgeschlagen hätten, so hätte dies eine Genehmigung des Familiengerichts erfordert (§ 1643 Abs. 2 S. 1 BGB). Es sei „nicht ersichtlich, warum das Familiengericht die Ausschlagung der infolge der Ausschlagung seitens der B1 und B2 nunmehr eingetretenen Vollerbenstellung des B5 hätte genehmigen müssen. Der Nachlass der Erblasserin ist werthaltig. Die bloße Belastung mit Pflichtteilsansprüchen oder das behauptete gestörte familiäre Verhältnis mussten das Familiengericht jedenfalls nicht zwingend zu einer Genehmigung der Ausschlagung veranlassen.„
Und mit einer für den BGH untypischen Deutlichkeit bringt er seine Missbilligung deutlich zum Ausdruck (Rn. 23):
„Der gesamte hier vorgetragene Sachverhalt einschließlich des Auslandsaufenthalts des B2 am 18. März 2017 sowie der erst kurz vor Volljährigkeit des B5 erklärten Erbausschlagung für diesen durch B2 und seine Ehefrau mit der nachträglichen Genehmigung nach Volljährigkeit des B5 beruht darauf, einer möglichen Versagung der Genehmigung der Ausschlagung durch das Familiengericht zu entgehen. Die Beteiligten haben unumwunden eingeräumt, dass es Ziel ihrer gesamten Ausschlagungen gewesen sei, das Testament der Erblasserin mit der Vorerbeneinsetzung der B1 und B2 sowie der Nacherbeneinsetzung der B4 und B5 zu umgehen, um im Ergebnis zu der gewünschten Alleinerbenstellung der B1 und B2 zu gelangen. Das Beschwerdegericht spricht hier ausdrücklich von einem kollusiven Zusammenwirken und hat, ohne dass dies aus Rechtsgründen zu beanstanden wäre, einen Umgehungsversuch festgestellt.“
Anmerkung von Fachanwalt für Erbrecht Ingo Lahn, Hilden:
Die Entscheidung verdeutlicht, dass taktische Ausschlagungen einem Spiel mit dem Feuer gleichkommen können und ohne fachliche Beratung durch einen verantwortungsvollen Fachanwalt für Erbrecht nicht durchgeführt werden sollten.
Immerhin ist im Ergebnis des besprochenen Falls B5 nun Alleinerbe geworden und – zumindest bis zu seinem 25. Lebensjahr – durch einen Testamentsvollstrecker vor Vater und Onkel, denen freilich der Pflichtteil zusteht, geschützt.
Länge der „gewissen Verweildauer“?
Der BGH hat in seiner Entscheidung nicht definiert, wie lange die „gewisse Verweildauer“ für das Vorliegens eines „Aufenthalts“ i.S.d. § 1944 Abs. 3 BGB betragen soll. Er begnügt sich mit der Jedenfalls-Argumentation: Der BGH leitet Sätze immer dann mit „jedenfalls“ ein, wenn es einer abschließenden Entscheidung nicht bedarf, da die Voraussetzungen zumindest im zu entscheidenden Fall vorliegen oder nicht vorliegen.
Im entschiedenen Fall lag dies bei einem Tagesausflug auf der Hand. Doch reicht schon eine Übernachtung aus, ein Wochenende, eine Woche?
Die Vorschrift des § 1944 Abs. 3 BGB stammt quasi noch aus dem Zeitalter der Postkutsche. So heißt es in den Gesetzesmotiven von 1899 (Mugdan V, S. 265):
„Dem im Auslande weilenden Erben muß die Möglichkeit gewahrt bleiben, die Erklärung über die Ausschlagung rechtzeitig abzugeben. Hierzu würde eine Frist von 3 Monaten noch in manchen Fällen zu kurz sein. Selbst bei den heutigen Verkehrsverhältnissen ist es nicht möglich, innerhalb der Frist von 3 Monaten die für die Entscheidung, ob eine Ausschlagung
angezeigt sei, erforderlichen Ermittelungen über die Verhältnisse anzustellen und zugleich eine die Ausschlagung enthaltende, gemäß § … formalisierte Erklärung an das Nachlaßgericht gelangen zu lassen, zumal nach § … eine telegraphische Erklärung gegenüber dem Nachlaßgerichte nicht zulässig sein würde. Eine Frist von 6 Monaten erscheint aber auch für diese Fälle ausreichend.
Zu unterscheiden, je nachdem der Erbe in diesem oder jenem Lande oder Erdtheile verweilt, ist weder zweckmäßig noch nothwendig … [und] würde zu einer mißlichen Kasuistik führen.“
Soweit der BGH auf Sinn und Zweck der Verlängerung der Ausschlagungsfrist abgestellt, darf man gespannt sein, welcher Zeitraum im heutigen globalisierten und digitalisierten Zeitalter eine Verlängerung überhaupt noch rechtfertigen soll.
Obiter dictum zur familiengerichtlichen Genehmigung der Ausschlagung bei Vor- und Nacherbschaft?
Interessant sind die Ausführungen des BGH jedoch zur Erforderlichkeit der familiengerichtlichen Genehmigung der Ausschlagung, wenn die Eltern als Vorerben und anschließend für das Kind als Nacherben ausschlagen.
Denn nach wohl h.M. ist in einem solchen Fall nach der Ausnahmevorschrift des § 1643 Abs. 2 S. 2, 1. Hs. BGB keine Genehmigung des Familiengerichts erforderlich (OLG Frankfurt, FamRZ 2012, 664; BeckOK BGB/Veit, § 1643 Rn 10; a.A. Sagmeister ZEV 2012, 121).
Der BGH scheint dagegen von der Genehmigungspflicht der Ausschlagung auszugehen, was auch konsequent ist, da bei Vorerbschaft eines Elternteils und Nacherbenstellung eines Kindes die Interessenkollision – wie der besprochene Fall eindeutig belegt – auf der Hand liegt.