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Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 22.03.23, Az. IV ZB 12/22, die hoch umstrittene Frage (s. die Nachweise in Rz. 17 des Beschlusses), ob eine sog. lenkende Ausschlagung im Falle eines Irrtums über die Person des als nächstes zum Erben Berufenen anfechtbar ist, nunmehr entschieden und verneint. Damit hat der BGH u.a. der Auffassung des OLG Düsseldorf (s. die hiesige Rezension mit Nachträgen) eine Absage erteilt.

Amtlicher Leitsatz des BGH, IV ZB 12/22:

Irrt sich der eine Erbschaft Ausschlagende bei Abgabe seiner Erklärung über die an seiner Stelle in die Erbfolge eintretende Person, ist dies nur ein Irrtum über eine mittelbare Rechtsfolge der Ausschlagungserklärung aufgrund anderer rechtlicher Vorschriften. Ein solcher Motivirrtum berechtigt nicht zur Anfechtung gemäß § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB.

Sachverhalt (verkürzt):

Der Vater war ohne Testament verstorben. Alle seine Abkömmlinge schlugen die Erbschaft aus, damit die gemeinsame Mutter, seine Witwe, Alleinerbin wird. Nach den Ausschlagungen stellte sich heraus, dass der Erblasser eine Schwester und auch Halbgeschwister hatte, die in der Familie unbekannt waren.
Ein Sohn focht seine Erbausschlagungserklärung wegen Irrtums an. Daraufhin beantragte die Mutter einen gemeinschaftlichen Erbschein, der sie und den Sohn zu hälftigen Miterben nach dem Erblasser ausweisen sollte. Das Amtsgericht wies den Antrag zurück, da die Anfechtung der Erbausschlagung unwirksam sei. Das OLG wies die Beschwerde ebenfalls zurück. Die zugelassene Rechtsbeschwerde zum BGH blieb ohne Erfolg.

Rechtlicher Hintergrund:

Ein Erbe kann eine ihm angefallene Erbschaft ausschlagen. Nach § 1953 Abs. 1 BGB gilt (gesetzliche Fiktion) dann der Anfall der Erbschaft an den Ausschlagenden als nicht erfolgt. Da es keinen erbenlosen Nachlass geben kann, fällt sie nach § 1953 Abs. 2 BGB dann demjenigen an, der (nach dem Gesetz oder einer Verfügung von Todes wegen) als Erbe berufen wäre, wenn der Ausschlagende bereits vor dem Erblasser verstorben wäre.
Gibt es keine Erben der ersten Ordnung (Abkömmlinge), sind die Erben zweiter Ordnung berufen. Das sind die Eltern des Erblassers und deren Abkömmlinge (§ 1925 BGB), hier also die Schwester und Halbgeschwister des Erblassers.
Infolge der Ausschlagung der Abkömmlinge des Erblassers wären die Geschwister folglich neben der Witwe zu Miterben berufen (§ 1931 Abs. 1 BGB).

Eine Ausschlagungserklärung kann jedoch (fristgebunden) angefochten werden, wenn ein beachtlicher Irrtum i.S.d. § 119 BGB vorliegt. Dies kann auch ein Rechtsfolgenirrtum sein, wenn das vorgenommene Rechtsgeschäft, hier die Ausschlagungserklärung, wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeugt. Der Irrtum über zusätzlich oder mittelbar eintretende Rechtswirkungen stellt dagegen einen Motivirrtum dar, der unbeachtlich ist.

Die wesentlichen Entscheidungsgründe des BGH, IV ZB 12/22:

Irre sich der Anfechtende über die Rechtsfolgen seiner Willenserklärung, könne dies eine Anfechtung begründen, wenn das vorgenommene Rechtsgeschäft wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeuge; dagegen sei „der nicht erkannte Eintritt zusätzlicher oder mittelbarer Rechtswirkungen, die zu den gewollten und eingetretenen Rechtsfolgen hinzutreten, kein Irrtum über den Inhalt der Erklärung mehr, sondern ein unbeachtlicher Motivirrtum“ (vgl. Urteil vom 29. Juni 2016 – IV ZR 387/15; Beschluss vom 5. Juli 2006 – IV ZB 39/05, BGHZ 168, 210 Rn. 19; st. Rspr.).
Unmittelbare Rechtsfolge der Ausschlagung sei nach dem Wortlaut des § 1953 Abs. 1 BGB der Wegfall der Erbenstellung bei dem Ausschlagenden und der Anfall bei einer anderen Person. Wer die Person des Nächstberufenen sei, regle § 1953 nicht unmittelbar. § 1953 Abs. 2 BGB stelle sich lediglich als Vorgabe für die weitere Rechtsanwendung dar. Wer nächstberufene Person sei, richte sich nach den Vorschriften über die gesetzliche Erbfolge (§§ 1924 ff. BGB) oder im Rahmen der gewillkürten Erbfolge vorrangig nach der Testamentsauslegung und nachrangig nach den §§ 2069, 2094 Abs. 1 Satz 1 BGB.
Ein Irrtum darüber führe damit lediglich zu einer fehlerhaften Anwendung der Vorschriften über die gesetzliche oder gewillkürte Erbfolge, nicht jedoch über die wesentliche und unmittelbare Rechtswirkung der Ausschlagung (Rz. 21).

Die Anfechtung sei auch nicht dadurch gerechtfertigt, dass der Ausschlagende den Anfall der Erbschaft an eine bestimmte Person als das primäre Ziel seiner Ausschlagung und seinen Wegfall als bloßes Mittel zu diesem Zweck erachte. Eine Rechtsfolge werde nicht dadurch zu einer unmittelbaren, dass sie der Hauptgrund für die Erklärung der Ausschlagung sei. Die unmittelbaren Rechtsfolgen der Ausschlagung beruhten nicht auf der Willensentschließung des Ausschlagenden, die Erbschaft nicht anzunehmen, sondern ergeben sich aus § 1953 BGB.

Die Einschränkung der Anfechtungsmöglichkeit sei auch im Interesse der Rechtssicherheit erforderlich, um der besonderen Interessenlage bei der Ausschlagung gerecht zu werden, den durch den Vonselbsterwerb (§ 1922 Abs. 1 BGB) herbeigeführten Schwebezustand durch Annahme oder Fristablauf nach verhältnismäßig kurzer Zeit zu beseitigen.

Abschließend unter ff) begründet der BGH noch, warum nach seiner Auffassung die seinen Entscheidungen vom 05.07.06 (IV ZB 39/05, BGHZ 168, 210) und vom 29.06.16 (IV ZR 387/15, s. hierzu meine Rezension) zugrunde liegende Situation, in der es um den Irrtum über den Verlust des pflichtteilsrechtlichen Wahlrechts gem. § 2306 BGB a.F/n.F. ging, nicht mit dem Irrtum über die nach Ausschlagung nächstberufene Person des vorliegenden Falls vergleichbar ist (Rz. 28).

Anmerkung von Fachanwalt für Erbrecht Ingo Lahn, Hilden:

Die Entscheidung des BGH schafft für Berater und Rechtsanwender endlich wieder Klarheit und Rechtssicherheit, beendet sie doch die Uneinheitlichkeit der obergerichtlichen Rechtsprechung. Sie ist allein schon deshalb sehr zu begrüßen.
Die Entscheidung ist m.E. auch inhaltlich richtig (vgl. meine Anmerkung zur abweichenden Entscheidung des OLG Düsseldorf).

Zukünftig wird von einer „lenkenden Ausschlagung“ zwingend abzuraten sein! Denn selbst einwandfreie juristische Beratung und gewissenhafte Genealogie kann nicht davor schützen, dass nicht plötzlich doch noch unbekannte oder verschwiegene Kinder „auftauchen“ und unerwartet als Miterben einrücken. Nach der jetzigen Grundsatzentscheidung ist die fehlgelenkte Ausschlagung nicht mehr korrigierbar.

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